„Neoliberalismus ist Böse“.
Das ist kein undifferenziertes Statement, das ist das Framing des Begriffs “Neoliberalismus” im Politik-Diskurs der vergangenen Dekade. Es ist daher auch naheliegend “Liberalismus“ eine schlechte Ausgangslage am Markt der politischen Meinungen und Befindlichkeiten zu attestieren. Politischen Organisationen, die ihr Politik-Produkt mit dem Attribut „liberal“ vermarkten, wird im Feuilleton und von Politanalysten generell eine geringe Überlebenswahrscheinlichkeit angetextet. Zwar wird dem Liberalismus gerade noch zugestanden mit „Freiheit“ und „Individualität“ angenehme Glücksversprechen zu verkaufen, diese seien aber längst schon als Common Sense auch im Konservativismus, der Sozialdemokratie, bzw. den „Grünen Alternativen“ aufgegangen. Und dann ist da eben noch dieser „Neoliberalismus“ – der Mythos kalter Menschenfeindlichkeit.
Politik hat grundsätzlich mit einer besonderen Ausgangslage auf dem Markt der Aufmerksamkeiten zu kämpfen. Die Komplexität der parlamentarischen Inhalte und Abläufe sind dabei nicht das entscheidende Problem (schließlich ist Autos zu produzieren auch eine langfristige und komplizierte Tätigkeit). Der Wirtschaftswissenschaftler Jan Lies 2008 beschreibt das besondere an politischer Kommunikation in der Unmöglichkeit für die Konsumenten Politik „nicht zu kaufen“ (Achtung: Dopplete Verneinung!). Selbst bei Stimm-Enthaltung bekommt der Wähler Politik, egal wie wenig er sie haben möchte. Das macht Politik per se unangenehm. Und das ist auch die Ursache dafür das “negative Campaigning” so gut funktioniert (“ja, das andere will ich so wenig, dass ich jetzt halt doch für dich stimmte”). Selbst wenn man sich nicht für eine bestimmte Politik entscheiden möchte, sieht man sich evtl. gezwungen gegen eine andere bestimmte Politik zu votieren.
Das kleinere Übel
Liberalismus, das Produkt, welches in einem Atemzug mit sozialen Abstiegsängsten, individueller Heimatlosigkeit in der digitalen Beliebigkeit und dem volkswirtschaftlichen Schwächeln der westlichen Demokratien in Verbindung genannt wird, taugte in den letzten Jahren besonders schlecht als „kleineres Übel“. Mit diesem allgemeinen Trend bewegen wir uns noch dazu in eine Periode hinein, in der die Menschen das kommunikative Handeln von politischen Institutionen zunehmend mehr als persönliche Bedrohung wahrnehmen.
„Die Zeit des sanft ironischen Hedonismus beginnt einer Ära der Angst zu weichen“, attestiert NZZ-Autor Martin Meyer am 06.12.2014. Medial gibt es dafür zahlreiche Anhaltspunkte. Besonders bedeutend erscheinen einerseits 9/11 und der darauf folgende Jihadismus als Bedrohung. Andererseits droht permanent der ökonomische Abstieg in einer der zahllosen Wirtschafts- , Währungs- und Schuldenkrisen. Beides sind individuelle Ängste. Die Ängste des vergangenen und vorvergangenen Jahrhunderts (z.B. vor preußischen Heeren, brauner oder roter Ideologie, oder der Atombombe) waren noch kollektive Ängste, die ganze Gesellschaften als Gemeinschaft überwinden konnten und mussten. In der klassischen Beschreibung von Vereinzelung in der Postmoderne ist die größte Angst die derjenige zu sein der nicht mehr das erreicht, was die Eltern noch erreicht haben, bzw. einer der unglücklichen Hand voll Personen zu sein, die jährlich unter 500 Millionen EU-Bürgern von der Willkür des Terrorismus erhascht werden, bzw. einfach keinen Anteil mehr zu haben am kulturellen Aushandlungsprozess und dem Status der damit verbnuden ist.
Wie immer in der Menschheitsgeschichte hat sich auch diese Phase der Angst zunächst einen Mythos suchen müssen, auf den sich all die unartikulierbaren Ängste fokussierten. Dafür wurde der Begriff „Neoliberalismus“ gebraucht. Das ist die Ausgangslage. Es besteht jedoch allen Grund zu der Annahme, dass sich diese Ausgangslage verschoben hat.
SelbstOptimierungszwang und -Chance
Der schleichende materielle Abstieg vor dem die Generation der 30 bis 50-Jährigen sich seit den frühen 00er-Jahren fürchtet und dessen Ursache sie im (Neo-)Liberalismus sah, hat sich mittlerweile manifestiert. Weder konservative, noch sozialdemokratische (oder wie in Baden-Württemberg sogar Grüne) Regierungen konnten diese Entwicklung abwenden. Mittlerweile sind Bush, Blair, und Schröder nicht mehr an der Regierung. Abwärts geht es trotzdem. „Vorwärts stürzen“ sagte Peter Sloterdijk 2014 dazu. Das politische Feld spaltet sich nicht mehr in eher gesetzte, eher vermögende, eher ländliche Schichten vs. urbane, gebildete Intellektuelle. Vielmehr stehen jene die den Status Quo aufrecht erhalten wollen jenen, die lieber schwindende Sicherheit gegen Chancen tauschen würden.
Liberalismus vergisst das Kollektiv und befeuert die Konkurrenz der Individuen? Liberalismus stellt sich dem Zwang zur Selbstoptimierung, Personenvermarktung und dem Zwang zur ständigen Kreativität nicht entschlossen entgegen? Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist es auch anders herum und das Kollektiv hat die Individuen vergessen. Was genau bietet eine Sozialdemokratie, die sich freie Bildung und stabile Renten nicht mehr leisten kann denn einer Gesellschaft noch als Alternative an – außer eine Hand voll Posten im schwächelnden staatsnahen Sektor?
Was bietet im Vergleich dazu der Liberalismus? Die Chance auf materiellen Erfolg und soziale Anerkennung, falls ich die Gegenwart der Selbstoptimierung, der Zwangs zur Kreativität und zur Personenmarke akzeptiere.
Linke Theorie
„Was von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus beklagt wird, ist das wachsende Missverhältnis zwischen sozialen Rechten und individuellen Optionen“ fand Heinz Bude schon 2001, als er in „Generation Berlin“ die „Neoliberale“ Republik Schröder analysierte (S.20).
Im 20. Jhd war demnach in Deutschland die Voraussetzung für Produktivitätssteigerungen und Wohlstand eine „Arbeitnehmergesellschaft, charakterisiert durch einen Mischung aus Massenloyalität und Wachstumsdynamik. Die Basis der psychischen Verfasstheit der Gesellschaft waren qualifikationsadäquate vollzeitliche, lebenslange Beschäftigung. Die Daseinsvorsorge im Fall von Arbeitslosigkeit oder Verrentung ist nur noch für einen kleinen Teil von meistens Männern in sichern Positionen des öffentlichen Dienstes oder die zur Kernbelegschaft von traditionell geführten, hochproduktiven Unternehmen gehören sicher. Das Konzept der sozialversicherungspflichtigen Arbeit ist in Wirklichkeit nicht mehr in der Lage, das Volumen der tatsächlich geleisteten und zur allgemeinen Wertschöpfung beitragenden gesellschaftlichen Arbeit zu identifizieren. Offenbar verliert der Arbeitsbegriff der „Arbeitnehmergesellschaft“ seinen Bezug zur wirklichen Welt der Arbeit“ (Bude 2001, S.18).
Und damit beschreibt er zum Beispiel wie sich junge leistungsfähige gut ausgebildete Menschen gegen die Rentenversicherung wenden, wie sich Arbeitnehmer von Gewerkschaften nicht mehr vertreten fühlen und Arbeitgeber nicht mehr von Arbeitsgebervertretungen.
„Wo das Bildungssystem einst Benachteiligungen von Hause aus ausglich, scheint es heute die Talentierten zu Entmutigen. Da stellt sich schon die Frage nach dem Nutzen prinzipieller Anrechte, denen keine aktuellen Chancen entsprechen“ (ebd, S.20.)
SChwups: plötzlich erscheint LIberalismus wie das geringere Übel
Zusammengefasst: All jene, die der Meinung sind, dass Wohlstand für alle nicht mehr im gleichen Maß wie im 20. Jhd finanzerbar ist und dass das beste, welches Politik noch anbieten kann eine faire Chance auf Wohlstand ist, für die ist Liberalismus theoretisch das passendste Angebot am Markt.
1994 hat Dirk Baecker, Professor für Kulturtheorie in Konstanz, diesen Wandel beschrieben. Die alte Ordnung der Unternehmenskultur gelte demnach nicht mehr. Er sieht die Arbeitswelt mittlerweile dreigeteilt in:
“1) Routinearbeit (ehemals Schwerarbeit der industriellen Produktion) steht unter dem Zeichen abnehmender Bedeutung und sinkender Löhne
2) Die persönliche Dienstleistung hat ihre Zukunft erst noch vor sich (Gastgewerbe, Kranken- und Altenpflege, Einzelhandel und Verkauf) – neuer Verhaltenstypus des gefälligen, hilfreichen, freundlichen, animierenden Verhaltens, wenn die Launen der Kunden am Nullpunkt sind (bsp. Starbucks?)
3) Tätigkeiten der Problemidentifizierung, der Problembewältigung und des Handels mit Problemen (Werbung, Architekten, Schriftsteller, Wissenschaftler – alles was mit der Manipulation von Daten und Symbolen zu tun hat).”
Die dritte Kategorie der „Symbolanalysten“ hätte keine Bosse und Untergebenen mehr, sondern nur mehr Partner in verschiedenen Abhängigkeitsverhältnisse voneinander. Was sich diesen drei Kategorien nicht fügt: Bauern, Bergleute, öffentlicher Dienst einschließlich Lehrer, Beschäftigte staatlich regulierter Industrien (z.B. Verteidigung) (Baecker 1994, S.90 f.)
Für viele Menschen der neuen Arbeitswelt bedeuten einigermaßen faire, ausgesprochene Abhängigkeitsverhältnisse mittlerweile evtl. mehr als soziale Utopien, die sich seit bald 30 Jahren immer weiter von der Gegenwart entfernen. Ein Blick auf Instagram lässt erahnen, dass Liberalismus am Markt derzeit enormes Potential hat.