„Brexit“ – als eine Mehrheit für die Demokratie stimmte

Auf die Frage „Leave“ oder „Remain“ gab es nur eine richtige Antwort: „Remain“, eh klar. Nach dem „Leave“ wird das Wirtschaftswachstum in England und in der EU geringer ausfallen. Die Modell Schweiz oder Norwegen (Beteiligung am EU-Binnenmarkt ohne EU-Mitglied zu sein) würden für England weiterhin hohe Kosten, aber weniger Mitbestimmung bedeuten. Wir dürfen in Neukölln nicht mehr Englisch mit der hipen Barista reden. Und am aller schlimmsten, vielleicht schadet es der Champions-League.
Aber wenn es auf dies Frage „Brexit ja/nein“ selbstverständlich nur eine richtige Antwort gab und wenn selbst die Brexit-Befürworter es eigentlich auch gar nicht so ernst gemeint haben, worüber wurde dann überhaupt abgestimmt?

Warum stimmt man ab über „einen Plan haben“ vs. „keinen Plan haben“? Liegt der Grund für das Ergebnis darin, dass die sadistischen Yolo-Senioren seniler sind als gedacht. War es ein Battle Alte vs. Junge, wobei die Jungen ja ohnehin gewonnen hätten, wenn mehr von ihnen zur Wahl gegangen wären? Sind wir also einfach alle noch dümmer als erwartet? Brauchen wir jetzt die Wahlpflicht, weil es statistisch bewiesen ist, dass die gegen Populismus und Lobby hilft?
All diese Fragen offenbaren eine überholte Perspektive auf Demokratie. In Zukunft werden sich immer mehr, wenn nicht gar bald schon alle, Abstimmungen nur noch um die Wahl „sinnvoller Plan“ vs. „sinnliches Yolo“ drehen. Auf der einen Seite die traditionellen Parteien, die alle irgendwie das selbe vertreten: den einzig rational-logischen Plan, auf der anderen Seite Populisten und Spaßparteien mit Vorschlägen bar jeder rationalen Vernunft.

Die Demokratie ist kaputt, dafür gibt es drei Gründe (“Leave” Wähler sind keiner davon, die haben nur versucht für die Demokratie zu stimmen):

Erstens: Irrationalität ist die einzig demokratische Alternative

Damit Demokratie funktionierten kann, müssen mündige Bürger miteinander diskutieren. “Mündig” ist dabei kein absoluter Wert. Es gibt keine Skala “mündig von 1 bis 100 und wenn 70% der Bevölkerung über 60% liegt, dann funktionieren Wahlen“. Die meisten EU-Bürger sind absolut mündig in der Lage die Fragen der Höhe von Steuern, des Ausbaus des Sozialstaats, etc. vernünftige durch Wahlen zu entscheiden. In der Frage wie den Problemen der Finanzmärkte, der Eurokrise, der Energiewende, oder der Gentechnik, ist das ein bisschen schwieriger. Mündigkeit ist also nicht absolutes, sondern hängt von der Komplexität des Problems ab. Wir leben in einer Zeit in der Probleme einerseits durch Digitalisierung, Globalisierung und Beschleunigung immer komplexer werden, andererseits gibt es scheinbar eh nur eine richtige Lösung. Wir finden es beispielsweise doof, dass Facebook in Europa keine Steuern zahlt, wir wollen Politiker wählen, die dafür sorgen, dass Facebook Steuern zahlt. Nun kann man von Wolfgang Schäuble glauben was man will, aber, dass er bösartig dafür sorgt Facebook keine Steuern zahlen zu lassen, das glauben wir vermutlich nicht. Viel wahrscheinlicher: Schäuble hat nicht die Macht dafür zu sorgen, dass Facebook Steuern zahlt. Angela Merkel wollte die Grenzen für Flüchtlinge öffnen, das lies sich offenbar nicht dauerhaft umsetzen, hätte es eine linke Regierung durchziehen können, ohne die EU in 1000-Teile zu zerlegen? Vermutlich nicht. Soll man daher umso mehr die Grünen wählen? Zwischen eher rationalen Parteien gibt es immer weniger Unterschiede, sie entscheiden einfach meistens relativ rational. Das ist die Logik der Brexit-Wähler. Sie sind alt, sie kennen Demokratie noch aus einer Zeit in der die Demokratie funktionierte und sie sehen es einfach nicht ein, dass ihre Wahl egal sein soll. Sie sind die Wahl Linke vs. Konservative gewohnt, eine Wahl in der beide Optionen Sinn machen und für unterschiedliche Lösungswege im Umgang mit Herausforderungen wie Arbeitslosigkeit sozialer Absicherung, etc. standen. Was diese Menschen nicht gewohnt sind, sind Wahlen, bei denen nur eine Option Sinn macht – das ist für sie keine Wahl.
Die Jungen dagegen kommen besser damit klar, dass sie keine wirkliche Wahl haben – darum gehen sie auch nicht hin.

“Postdemokratie” nannte Colin Crouch den Zustand in dem wir heute stecken: ein Zustand, in dem Politiker keine Ideologien zur Wahl stellen, sondern sich nur noch nach Meinungsumfragen richten. Was soll man auch sonst tun, schließlich sind die wenigsten von uns ideologieversessen. Als verantwortungsvoller Politiker fragt man bei komplexen Problemen (und die werden immer mehr) also die relevanten Experten und tut einfach das richtige. Der Soziologe Armin Nassehi meinte dementsprechend Anfang des Monats im Welt-Interview auf die Fragen: “Was war ein Gedanke, auf den Sie in letzter Zeit besonders stolz waren, eine Erkenntnis, die Sie überwältigte?
Armin Nassehi: Gar kein eigener Gedanke: Wie wichtig es ist, als Wissenschaftler funktionalistisch und nicht kausalistisch zu denken. Wer kausalistisch denkt, sucht stets nach einer Ursache oder einem Ausweg. Doch wer funktionalistisch denkt, fragt danach, für welches Bezugsproblem eine Lösung ist und ob es nicht auch anders gelöst werden könnte. Von dieser Denkfigur bin ich überwältigt.”
Das ist sehr schlau von Armin und so machen es auch kluge Politiker. Welchen Sinn hat es schon sich über die Ursachen den Unglücks in der Welt den politischen Kopf zu zerbrechen, wenn man stattdessen einfach das in seiner Macht liegende tun kann um die Umstände im greifbaren Rahmen zu verbessern. Und was bedeutet das für die Demokratie? Im Grunde können wir, wenn sich unserer rationalen Regierungen so verhalten, nur noch darüber abstimmen ob wir den Experten glauben wollen oder nicht. Große Entwürfe sind höchstens noch vorgetäuscht und können ohnehin nicht umgesetzt werden. Das ist dann keine wirkliche Wahl mehr. Zumindest keine rationale. Die „Wahlpflicht“ ist vor diesem Hintergrund eine zynische Idee. „Ihr habt zwar keine Wahl, aber ihr müsst bei Strafe hingehen!“

Zweitens: Wer Demokratie ernst nimmt, der muss auch mal irrational wählen

Die Brexitwähler haben nicht nur deshalb für den Brexit gestimmt, weil sie von der Komplexität unserer Zeit überfordert waren, sie haben für den Brexit gestimmt, weil sie versuchten frei und selbstbestimmt mit dieser Komplexität umzugehen. Mehr als die Hälfte der Wähler hat für „Leave“ gestimmt. Es ist nicht realistisch, dass jeder von ihnen nur deshalb für die Populisten votierte, weil diese einfache Antworten und Protest gegen was-auch-immer anbieten, sondern weil die Populisten überhaupt etwas zur Wahl stellen.

Dass sich unser politisches Spektrum heute nicht mehr in Links-Rechts teilt, ist ein alter Hut. Wir haben eine konservative Mitte, die aus allen traditionellen Parteien besteht und aus einem alternativen am Rand. Diese Alternativen könnte man als Links, oder Rechts beschreiben, sie sind aber vor allem populistisch. Die FPÖ ist in ihren sozialpolitischen Forderungen oft sozialistischer als die SPÖ und die Linke will die AfD-Wähler nicht zu hart kritisieren, weil sich beide ein Wählerpotential teilen.
Ist die neue Trennlinie also: Intelligente Mitte-Wähler, gegen dumme Protestwähler egal welcher Orientierung? Auch nicht, denn die Populisten sind nicht nur deshalb populistisch, weil sie dadurch einfacher von einfachen Menschen verstanden werden. Sie sind es auch deshalb, weil es gegenüber der einen, der richtigen, der rationalen Antwort eben nur eine Alternative gegen kann: Die irrationale Antwort. Man könnte auch positiver formulieren: Sie sinnliche Antwort.

Drittens: Immer mehr Menschen wählen sich selbst ab

Der Brexit war vielleicht eine Überraschung, aber die grundsätzliche Entwicklung war absehbar. Schon Foucault skizzierte eine Gesellschaft, in der Macht nicht mehr von Körpern über Körper ausgeübt wird, also beispielsweise von Polizisten, Gefängniswärtern, katholischen Erziehern und sadistischen Eltern über alle ihre Opfer (uns). In der zukünftigen Gesellschaft würde die Macht ins System abwandern. Durchgesetzt werde sie vor allem durch Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung (das hat dann Deleuze gesagt).

In Mitteleuropa kann heute jeder alles werden, man muss nur genug Disziplin haben. Gleichzeitig, hat man nie genug erreicht, es könnte immer mehr sein und überhaupt, so viel zu Geld verdienen, dass man sich eine eigenen Wohnung kaufen kann ohne zu erben, dass ist halt einfach nicht mehr drin. Wir wissen was wir tun müssten um etwas zu erreichen im Leben. Die Frage ist nur, haben wir die Disziplin? Es gibt immer weniger Eliten die uns im Weg stehen. Klar, als Frau ist es schwieriger Vorstand zu werden und wenn deine Eltern niemanden kennen, muss du für den Jobeinstieg mehr Bewerbungen schreiben. Aber es ist trotzdem möglich.
Wenn wir also von “Überforderung” der Brexit-Wähler reden, dann ist es mehr als die  „Überforderung durch technologische Komplexität”. Es ist vor allem die Überforderung durch die eigene theoretische Freiheit. Der Glaube an Chemtrails, den Brexit, „das böse Gen“ und “das hässliche TTIP” ist auch der emanzipatorische Versuch diesen Teufelskreis der Rationalität zu durchbrechen. „Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben, als die Schuld immer bei mir selbst zu suchen.“

Die Macht ist ins System abgewandert. Das System sind wir selbst. Wir haben alle Informationen und alle Möglichkeiten und somit auch alle Freiheiten. Gleichzeitig haben wir überhaupt keine Freiheit, weil es nur noch einen logischen Weg gibt. Und wenn es keine Wahl gibt, dann gibt es auch keine Freiheit. Das Leben wird unlogisch. Baudrillard verabschiedet sich daher gleich man von jeglicher Realitätvorstellung. Er erklärt sie für nicht mehr zeitgemäß und schlicht irrelevant und meint: “Die Hypothese der objektiven Realität übt nur deshalb einen derartigen Einfluss auf unseren Geist aus, weil sie bei weitem die einfachste Lösung darstellt […] Die exakte Hypothese besteht darin, dass der Mensch unfrei geboren wurde, dass die Welt unwahr, unobjektiv, nicht rational entstanden ist. Doch ist die radikale Hypothese definitiv ohne Beweis, unverifizierbar und in gewisser Art unerträglich. Daher rührt der Erfolg der umgekehrten, der einfachen Hypothese”. Nach Baudrillard leben wir mit zwei zentralen Illusionen: a) Subjektive Illusion der Freiheit. b) Objektive Illusion der Realität.

Und was tun wir dagegen? In einer Vermischung von Optimierungs- und Profilierungsdruck, in super erfolgreichen Instagram-Accounts und feministischen Jungjournalistinnen-Blogs ist die Welt genauso anstrengend wie sie für den Rohrreiniger und Kleinwagentuner aus Kärnten ist. Der hat zwar mehr Cash als die Jungjournalistin, ihm sagt die Gesellschaft aber klar ins Gesicht: “Du bist zwar nicht mehr interessant, geh aber trotzdem wählen und wähle die einzig richtige Wahl.” Für ihn fühlt sich jede Wahl an wie Hitlers Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz: Großes “JA” kleines “nein” und sie wählen dann immer öfter das kleine “nein”. Man kann das für sehr demokratisch halten.
Brexit-AfD-FPÖ-DiePartei-Wähler wählen gegen das System (das sie selbst sind) für eine Freiheit (die es nicht gibt), versehentlich sich selbst ab. Das ist vielleicht nicht rational, aber alle anderen wählen im Grunde überhaupt nicht. Entweder wollen wir die Demokratie, so wie sie ist behalten, dann müssen wir auch mal was anderes Wählen als die alten Systemparteien, oder wir wollen die Populisten endlich aus unserem schönen Europa raus bekommen, dann brauchen wir dafür etwas anderes als diese Demokratie.